Ashtanga Yoga aus meiner Sicht

 ÜBER ASHTANGA

Ashtanga Vinyasa Yoga geht auf den indischen Yogalehrer, ayurvedischer Heiler und Gelehrten Tirumalai Krishnamacharya (1888 – 1989) und seinen Schüler Krishna Pattabhi Jois* (1915 – 2009) zurück. Ich habe beide Lehrer nicht kennengelernt, sondern lernte und lerne bei Schülern von ihnen: Paul Dallagahn, Dr. Ronald Steiner, Peter Greve und von Anna Rossow, die jedoch keine direkte Schülerin dieser beiden Lehrer war.
Die Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass die Āsanas in einer festgelegten Reihenfolge (Serie) praktiziert werden. Die einzelnen Āsanas sind dabei über den Atem mitienander verbunden (Vinyasa). Auf diese Weise entsteht eine fließende Praxis, ein Bewegungsfluss im Tempo des eigenen Atems. Die einzelnen Āsanas werden dabei individuell unterrichtet / erlernt.

Dieser Artikel beschreibt Ashtanga Yoga so wie ich ihn zur Zeit sehe, übe und unterrichte. Wir alle befinden uns in einem ständigen Entwicklungsprozess und ich kann nur aus meiner momentanen Perspektive heraus schreiben.

Wenn ich erzähle, dass ich Ashtanga unterrichte, sehe ich nicht häufig mit dem Vorteil konfrontiert, eine rein „körperliche“, „sportliche“ Form des Yoga zu üben bei der oft Verletzungen entstehen. Außerdem höre ich, die Praxis sei er langweilig oder einseitig, da immer dasselbe geübt werde. Das wird dem, was ich in den letzten zwölf Jahren von meinen Lehrern gelernt und selbst durch diese Praxis an Entwicklung erfahren habe, nicht gerecht.

Für mich ist Ashtanga Yoga eine tägliche Routine. Und ja, ich übe jeden Tag die gleichen  Übungen und dennoch ist es nie das selbe. Wie soll man das erklären? Wenn du jeden Tag die gleiche Runde spazieren gingest, wäre auch das nie das selbe. Denn du selbst wärest ja schön jeden Tag nicht die oder der selbe. Du würdest dich unterschiedlich fühlen, hättest mal große, mal überhaupt keine Lust auf den Spaziergang. Das Wetter und die Jahreszeiten bestimmten was du trägst und vielleicht zusätzlich wie es dir geht und was du unterwegs zu sehen, zu hören und zu riechen bekommst. Du müsstest nicht mehr darüber nachdenken, wo du als nächstes abbiegen möchtest, sondern könntest dich ganz auf deine Sinne und dich selbst konzentrieren.
So ähnlich ist es, wenn wir auf der Yogamatte einer festen Routine und Reihenfolge folgen, die Āsanas selbst werden, eben weil sie feststehen, weniger wichtig – genau wie der Weg beim Spazierengehen.
Wenn wir beginnen Yoga zu üben, ändern wir unsere Sichtweise auf die Welt. unser ganzes Leben haben wir gelernt, dass alles was es zu erleben und zu erfahren gibt und all unsere Freude und unser Leid im Außen liegen. Folglich haben wir, wie wir es auch bei einem Spaziergang gerne machen, unsere Sinne und Tätigkeitsorgane nach außen gerichtet. Daran ist erst einmal nichts Falsches. Doch irgendwann gewöhnen wir uns an diese Vorstellung der Welt als Tankstelle. In der Hoffnung dort alles zu bekommen, was wir uns ersehenen, richten wir all unser Streben nach Außen und machen unser Glück vom Außen abhängig. Sogar unsere Ruhe und unseren Frieden machen wir von Situationen und dem, was wir bereits erledigt haben, abhängig. Doch selbst wenn wir dort außen bekommen was wir wollen, ist immer irgendwann ein Sättigungspunkt erreicht und wieder werden wir unruhig. Und die Suche nach dem Glück geht weiter.
Yoga zeigt uns nun eine Sichtweise auf, mittels derer wir diesen Kreislauf durchbrechen können. Und der fundamentale Unterschied ist, dass wir alle unsere Sinne und Tätigkeitsorgane nach innen richten, statt wie bisher nach außen.

Was bedeutet das konkret für die Yoga Praxis? Der wichtigste Punkt eins, der zugleich viele Menschen verwirrt, die den Zugang zum Yoga über Āsanas gefunden haben: Āsanas sind nicht wichtig. Sie sind für den Yoga in sofern relevant, als das sie uns darin unterstützen unseren Köper und uns selbst im jetzt zu erfahren, weil wir einerseits wach sein müssen, um sie zu üben oder es zwangsläufig werden. Andererseits verhelfen sie uns zu einer gewissen Ruhe. Denn Āsanas sind nicht dynamisch. In einem Asana können wir ankommen und unsere Sinne nach innen richten. Sie bilden sozusagen den Rahmen für unsere Yogaerfahrung. Welches Asana wir dafür wählen ist letztlich fast gleichgültig. Es ist egal, ob du jeden Tag den Tänzer übst oder die Taube, es geht darum, dass du übst und auf welche Weise. Deshalb ist es sinnvoll, wenn wir uns am besten möglichst wenig Gedanken darum machen müssen, welches Asana als nächstes kommt. Denn das verlagert unseren Fokus wieder nach außen. Weil wir diese Sichtweise aber gelernt und automatisiert haben, meinen wir, wir müssten jeden Tag etwas anderes oder unbedingt noch dieses oder jenes Asana üben, denn schließlich fühlen wir uns ja auch jeden Tag anders. Doch diese Herangehensweise entspricht genau unseren alten Mustern. Wir suchen unser Glück im Außen. In einer neuen, anderen Position oder anderen Reihenfolge der Positionen.

Belassen wir aber die Āsanas und die Reihenfolge gleich, geschehen zwei Dinge: Da wir uns tatsächlich täglich anders fühlen, müssen wir uns damit auseinandersetzen auf welche Weise wir üben. Und da wir im Außen nichts verändern, haben wir überhaupt erst eine Chance wahrzunehmen, wie wir uns eigentlich fühlen, welche Gedanken wir denken und was für Gedanken uns auf der Matte begleiten. Das heißt, wo Āsana (bzw. die Gedanken darum) aufhören, beginnt der Yoga. Ich behaupte, es ist anstrengend sich mit dem auseinander zu setzen, was da an Gedanken und Gefühlen mit auf der Matte ist und es ist nicht immer leicht das alles „nur“ bewusst wahrzunehmen, nicht zu bewerten und weiter zu machen. Aber es ist der einzige Weg.
Auch hier ist die festgelegte Reihenfolge ein großer Vorteil, denn wir brauchen keine Gruppe und keine / n Lehrer:in um Ashtanga zu üben. Wir können uns alleine zu Hause auf die Matte stellen und beginnen. Das ist jedoch eine große Herausforderung, sind wir doch sehr intensiv mit allem konfrontiert was dann jeweils an Gefühlen und Gedanken unterwegs ist. Deshalb können wir Ashtanga auch in der Gruppe üben, ohne das wir unseren Fokus wieder nach außen richten, weil wir einer Lehrerin oder einem Lehrer zuhören und darauf achten müssen was als nächstes kommt. Mysore Stil nennt sich diese Art des Übens, bei der jede / r für sich im eigenen Tempo in der Gruppe übt.

Und natürlich taucht beim Üben Langeweile auf, denn sie ist die mildeste Form von rajas, der unruhigen Energie, die uns antreibt und rastlos macht. Oder wir haben keine Lust mehr zu üben, weil „sowieso alles keinen Sinn macht“. Das ist eine Form von tamas, der Trägheit. Mit dem Weitermachen und bewusst wahrnehmen dieser Kräfte, unserer Gefühle und unserer Gedanken ohne sie zu bewerten, schaffen wir eine gesunde Distanz zu ihnen. Und wir bemerken, dass wir nicht unsere Gefühle und Gedanken sind. Das wir vielleicht zunächst einmal das sind was das alles beobachtet und in sich ruht. Vermutlich ist auch das Teil des Denkens und eines Konzeptes. Aber belassen wir es erstmal dabei.
Wenn wir so Yoga üben, schaffen wir Raum in uns, einen Raum, der uns die Freiheit gibt zu wählen, wie wir reagieren wollen statt von einem Gedanken oder einem Gefühl zu einer Reaktion „gezwungen“ werden. Dieser Raum ist auch in unserem Alltag sehr hilfreich und unterstützt darin, in jeder Situation ruhig und klar zu bleiben und angemessen zu handeln.

Lisa Mittag


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* Ich distanziere mich ausdrücklich von Pattabhi Jois und führe seine Tradition nicht fort. Ihm wird sexueller Missbrauch vorgeworfen. Viele seiner Schüler:innen wurden physisch und psychisch verletzt. Hier findet Ihr meine Stellungnahme dazu. 
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